Hat ein Schmetterling schon einmal einen Orkan ausgelöst?

Wetter ist ein chaotisches System. Bei einem chaotischen System kann selbst eine sehr kleine äußere Einwirkung große Auswirkungen haben. Auf das Wetter bezogen wäre eine sehr kleine äußere Einwirkung der Flügelschlag des Schmetterlings und die große Auswirkung der Orkan. Das ist ein beliebtes Bild um "Chaos" zu beschreiben. In diesem Artikel möchte ich dem Chaos etwas theoretischer auf die Spur gehen - wie immer, mit vielen Beispielen. Und dann schließlich die Frage im Titel angehen; hat ein Schmetterling schon einmal einen Orkan ausgelöst?


Abbildung 1: Ein sehr schöner Schmetterling. Ob er wohl schon einmal einen Orkan ausgelöst hat? (Bildrechte: (c) luise/pixelio.de)

Wenn wir über Chaos sprechen, dann geht es in aller Regel um sogenannte dynamische Systeme. Das ist im Grunde erst einmal nichts anderes, als ein System das einen gewissen Zeitverlauf darstellt, also das Verhalten eines Objektes über eine Zeitspanne hinweg. Zu jedem Zeitpunkt hat das dynamische System einen sogenannten Zustand. Typischerweise nimmt man an, dass man den Zustand eines dynamischen Systems zu einem Zeitpunkt t bestimmen kann, wenn man den Zustand zum vorherigen Zeitpunkt t-1 kennt. In Formeln: Wir bezeichnen vt := "Zustand zum Zeitpunkt t". Dann ist das dynamische System über eine Update-Formel gegeben

vt = F(vt-1)

und außerdem einen Anfangswert v0. Wir haben jetzt implizit angenommen, dass Zeitpunkte diskret sind. Im Falle stetiger Zeitpunkte würde man das dynamische System durch eine gewöhnliche Differentialgleichung beschreiben. Das führt jetzt vermutlich etwas zu weit; die Idee ist aber die Gleiche.

Beispiele.
  1. Die Schwingung eines Fadenpendels kann mittels eines dynamischen Systems dargestellt werden. Hier ist der Zustand des Systems der Vektor der Auslenkungswinkel und die Winkelgeschwindigkeit des Pendels beinhaltet. Ließe man das Pendel bei einem Winkel von 45° einfach los, so wäre der Anfangswert der Auslenkungswinkel 45° und die Winkelgeschwindigkeit 0. Das dynamische System ist eine nicht-lineare gewöhnliche Differentialgleichung.
  2. Eine Schallwelle kann mittels eines dynamischen Systems dargestellt werden. Der Zustand ist hier der Druck in jedem Ort des Raums, in dem die Schallwelle schwingt. Hier ist das dynamische System eine lineare hyperbolische partielle Differentialgleichung.
Ein dynamisches System F auf dem Zustandsraum X heißt chaotisch, wenn die drei folgenden Axiome erfüllt sind, die ich erst formal, dann an Beispielen erkläre:
  1. Das System reagiert sensitiv auf den Anfangswert.
  2. F ist topologisch transitiv, also für zwei offene Mengen A, B gibt es ein n, sodass gilt Fn(A) und B sind nicht disjunkt, wobei Fn heißt: F n-mal angewendet.
  3. F ist periodisch und die Menge der Periodenpunkte ist dicht in X.
Das erste Axiom ist sicherlich das, dass am einfachsten zu verstehen ist. Die Idee: Wenn man am Anfangswert wackelt, dann passiert sehr viel. Tatsächlich passt das exakt zu unserem Schmetterlingsbeispiel. Der Flügelschlag des Schmetterlings stellt so etwas dar, wie ein leichtes Wackeln am Anfangswert. Das zweite Axiom lässt sich folgendermaßen verstehen: Die offenen Mengen A und B sind Umgebungen um zwei Punkte a und b. Das Axiom besagt nun, dass ich in einer gewissen Anzahl an Schritten (=n) von der Umgebung um a in die Umgebung um b gelangen kann. Also besagt die topologische Transitivität, dass man im Grunde von fast überall nach fast überall gelangen kann. Das heißt unmathematisch: Das System F durchmischt den Raum X sehr ordentlich. Axiom 3 besagt, das F periodisch ist. Soweit so einfach. Die Menge der Periodenpunkte liegt außerdem dicht in X. Das heißt, es gibt so viele Periodenpunkte (oder in einer dimension Periodenlängen), dass sich jeder Wert in X durch Periodenlängen beliebig genau annähern lässt. Uh. Sagen wir unmathematisch: F ist furchtbar periodisch.

Ein Beispiel für ein chaotisches System ist das Lorenz '63 System, siehe [2]. Es ist eine drei-dimensionale gewöhnliche Differentialgleichung, die ein sehr einfaches Modell für atmosphärische Konvektion darstellen soll, das klingt doch schon sehr nach Wetter. In Abbildung 2 habe ich einmal zwei Approximationen des Lorenz Systems dargestellt. Der blaue Graph entspricht dem System mit Anfangswertvektor (0.1, 0.1, 0.1). Im orangefarbenen Graph habe ich zu allen Anfangswerten den Wert 0.000001 hinzuaddiert, also 1 zur sechsten Nachkommastelle dazuaddiert.

Abbildung 2: Zwei Lorenzsysteme (blau, orange) mit leicht verschiedenen Anfangswerten. Während sich die dritte Dimension (rechts) nicht unterscheidet, gibt es klare Unterschiede in den ersten beiden.


Man sieht deutlich in der Grafik, dass sich die erste und zweite Dimension nach einer gewissen Zeit deutlich absetzt. Die dritte Dimension wirkt unberührt. Das heißt, tatsächlich hatte die minimale Störung des Anfangswertes eine starke Auswirkung auf das System.

Chaotische Systeme sind in vieler Hinsicht kompliziert. Die korrekte Simulation ist schwierig, in der Tat gibt es sogar probabilistische Methoden, die zu vertrauenswürdigeren Ergebnissen verhelfen sollen, siehe [1]. Vorhersagen, die auf dem Modell basieren, sind oft wenig glaubwürdig. Wenn man nur ein bisschen an den aktuellen Daten wackelt, dreht sich das Wetter von sonnig auf Hurricane. In diesem Beispiel hieß ein bisschen: 0.000001. Das heißt, zum Zeitpunkt des Flügelschlages eines Schmetterlings können wir kaum sagen, ob dieser einige Tausende Kilometer weiter einen Orkan auslösen wird.

Wenn Vorhersagen schon schwierig sind, wie sieht es dann mit inversen Problemen aus? Die Frage im Titel ist ein inverses Problem: Hat ein Schmetterling schon einmal einen Orkan ausgelöst? Um die Frage zu präzisieren: Können wir, wenn wir einen Orkan beobachten basierend auf unserem Modell zurückrechnen, welcher Schmetterling ihn ausgelöst hat? Oder war es ein Husten? Oder das Schwingen einer Fliegenklatsche?

Ich versuche dies wieder an dem Lorenz '63 System zu verdeutlichen. Ich nehme an, wir beobachten den Zustand des Systems zum Zeitpunkt t = 50 und möchten den Anfangswert bestimmen. Der Anfangswert beträgt in Wirklichkeit (0.1, 0.1, 0.1). Wir vereinfachen das Problem noch etwas: Wir nehmen an, dass der Anfangswert (0.1+/-0.000000001, 0.1, 0.1) ist. Also wir kennen die zweite und dritte Komponente exakt, und die erste bis auf alles nach der achten Nachkommastelle. Außerdem nehmen wir an, dass die Daten etwas gestört sind (etwa 1% Noiselevel). Wir verwenden Bayes'sche Statistik, um den unsicheren Anfangswert zu bestimmen. Wir approximieren die A-Posteriori-Verteilung mit Importance Sampling basierend auf 10000 Samples. Werte Leser, bitte entschuldigt, dass ich noch immer keinen Beitrag zur Bayes'schen Statistik geschrieben habe. Ich denke, mein Punkt wird im Folgenden auch klar, wenn man nicht genau versteht, wie diese Art der Statistik funktioniert. Ansonsten empfehle ich die Wikipedia.

Die A-Posteriori-Verteilung sieht man in Abbildung 3.  Jeder Punkt steht dort für ein Sample. Die x-Achse zeigt die Lage, die y-Achse zeigt die A-Posteriori-Wahrscheinlichkeitsmasse des jeweiligen Punktes. Wir würden normalerweise einen stetigen Plot erwarten, insbesondere bei dieser großen Anzahl an Samples auf einem solch kleinen Intervall. Außerdem würden wir erwarten, dass sich die A-Posteriori-Masse sich zumindest etwa um den wahren Wert 0.1 zentriert. Um den wahren Wert gibt es auch A-Posteriori-Masse, jedoch ist diese eigentlich recht regelmäßig unregelmäßig über das ganze Intervall verteilt. Der wahre Anfangswert 0.1 ist damit nicht identifizierbar in diesem Beispiel.

Abbildung 3: Wahrscheinlichkeitsmasse der geschätzten A-Posteri-Verteilung des unsicheren Anfangswertes des Lorenz '63 Systems. Der wahre Wert ist 0.1.

Scheinbar sind inverse Probleme bei chaotischen Systemen schwierig bis unmöglich (mehr oder weniger) eindeutig zu lösen. Damit ist wohl auch die Frage "Hat ein Schmetterling schon einmal einen Orkan ausgelöst?" unentscheidbar. Vielleicht hat ein Schmetterling schon einmal einen Orkan ausgelöst. Wenn dies der Fall ist, lässt sich dies jedoch weder zum Zeitpunkt des Flügelschlages noch zum Zeitpunkt des Orkans feststellen. Wir müssen also davon ausgehen, dass es möglich ist, wir aber nie wissen werden, ob es schon einmal passiert ist.

Referenzen.
[1] Conrad, Girolami, Sarkka, Stuart and Zygalakis (2006): Statistical analysis of differential equations: introducing probability measures on numerical solutions. Statistics and Computing 27(4):1065-1082.
[2] Lorenz (1963): Deterministic non periodic flow. Atmos J Sci 20:130-141.

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